Evangelische Kirchengemeinde Zur Heimat
  19.4.2024 · 7:05 Uhr
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Predigten
 
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11. Sonntag nach Trinitatis, 11.8.2013, 11.00 Lukas 7,36–50
Ein unmoralisches Angebot
Jesus, Simon und die Sünderin
Liebe Gemeinde,
was steckt da nicht alles drin in unserem Predigttext: Zunächst natürlich diese Geschichte von der Begegnung Jesu mit dieser so überschwänglichen Frau, die Jesus die Füße salbte, beim Gastmahl im Hause von Simon, dem Pharisäer. Eine Sünderin, so wird sie gleich benannt. Eine Frau mit offenbar anrüchigem, mit unmoralischem Lebenswandel. Eine Hure, eine Prostituierte, so sagen es eigentlich viel deutlicher die vier verschiedenen Versionen, die es von diesem Eklat in den vier Evangelien gibt. Eine wichtige Geschichte also. Aber egal, wie sie erzählt wird: Man weiß gleich: Das ist eine Frau, mit der man sich möglichst nicht einlassen sollte; jedenfalls nicht vor den Augen der Leute, in der Öffentlichkeit also; als anständiger Bürger, als gesetzestreuer Jude, als ehrbarer Mann – wie immer man „Pharisäer“ in heutige Maßstäbe, in unseren Alltag übersetzen will. In jedem Fall ein Eklat, diese Dreiecksgeschichte – zwischen der Hure, dem Hausherrn … und diesem seltsamen Heiligen, der es auch noch gut findet, wie sich jemand da so über alle Regeln hinwegsetzt.
36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.
37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl
38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl.
39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.
40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es!
41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig.
42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?
43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.
46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.
47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.
48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.
49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?
50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
  Lukas 7
Doch es geht ja nicht nur um diesen Eklat: Wo sich Jesus, dieser Wanderprediger, von dem man ohnehin nicht so genau weiß, was man von ihm halten soll, vor aller Augen mit „so einer“ einlässt. Dann folgt nämlich noch ein Lehrgespräch zwischen Jesus und seinem Gastgeber. Simon, der Pharisäer ist ein frommer, ernsthafter, aber auch ein mutiger Mann, der Jesus trotz aller Anfeindungen vor aller Augen und damit doch geradezu demonstrativ in sein Haus einlädt – Simon lässt sich also durchaus mit „so einem“ ein. Ach, Simon, so fern bist Du uns gar nicht, wir wissen doch, wie das läuft: Interessante Gespräche, bekannte Leute, vielleicht auch mal ein kleiner Eklat – aber im Grunde soll doch alles im Rahmen bleiben. Simon ist einer, der eben auf Unterschiede achtet: Die eine will er zwar nicht, das gehört sich einfach nicht, auch wenn er sie immerhin nicht rausschmeißt. Den anderen will er schon, der hat Interessantes zu sagen. Immerhin ein Anknüpfungspunkt für Jesus, mit ihm über solche Unterschiede zu sprechen – und was die einem so zeigen.
Und auch dieses Gespräch führen die beiden vor aller Augen und Ohren. Auch da zeigt Simon, obwohl andere Pharisäer darüber den Kopf schütteln, doch Haltung. Simon schleicht sich eben nicht, so wie andere es tun, nachts und heimlich zum Gespräch mit Jesus. (Joh. 3) Simon ist da ganz offen, scheinbar, offen für alles. Er ist interessiert und gastfrei – im gebotenen Maße natürlich. Und über all diese feinen, kleinen Unterschiede, auf denen man in den besseren Kreisen doch besteht, lässt er sogar mit sich reden, immerhin. Jesus lobt sogar Simons Urteilsvermögen. Und lässt sich selbst erst mal ein auf diese Art, säuberlich zwischen Menschen zu unterscheiden. Beim ersten Vergleich ist ja auch alles noch ganz einfach: Da geht es nur um Geld. Das versteht jeder, da geht es um Zahlen, um Schulden und Schuldenerlass. Das ist ja auch in unseren Tagen immer ein Thema, bei dem man umsichtig, mit Kalkül, auf keinen Fall spontan vorgehen sollte. Sagen die Experten – und pochen auf objektiven Kriterien. Da muss man differenzieren können. Simon kann das, unterscheiden: Klar, der Schuldner mit dem größten Schuldenerlass wird bestimmt auch die größte Dankbarkeit empfinden. Auch Gefühle richten sich nach dem Geld, eine einfache Rechnung, denkt Simon noch.
Dann wird es allerdings etwas komplizierter für ihn. Denn diese Frau, die angeblich keinen Anstand hat, hat den so anständigen Simon bei weitem übertroffen, nämlich in ihrer Wertschätzung für Jesus. Simon, der wohlsituierte Simon, hat Jesus dagegen die übliche Ehrerbietung nicht gezeigt: Die Fußwaschung, damals so etwas wie heute der rote Teppich oder die VIP-Liste für den Zugang zum Club. Die Frau aber hat Jesus die Füße mit duftendem Öl, sogar mit ihren Tränen gewaschen. Nicht einmal ein Handtuch hatte sie, da hat sie eben ihre Haare zum Abtrocknen genommen, alles eingesetzt, was sie hatte. Sie hat Jesus gesucht und ihn geehrt, im wahrsten Sinne, mit Haut und Haaren.
Simon ist auf Distanz geblieben – nicht einmal zum Wangenkuss bei der Begrüßung hat er sich bei Jesus aufraffen können. Das gehört sich nun wirklich nicht im Orient, mit seinem Gastrecht, das über allem steht und das alle respektieren. Wo alle versuchen, sich dabei an Herzlichkeit zu übertreffen. So wie die Frau, die mit einer Hingabe Jesu Füße geküsst hat, dass es Simon eigentlich beschämen müsste.
Doch Jesus will ihn gar nicht beschämen. Er will Simon nur klarmachen: Merkst Du, bei all Deinem dosierten Anstand – da hast Du Dir was zuschulden kommen lassen! Da geht’s nicht mehr bloß um Dein Schuldenkonto oder um einen Schuldenerlass. Nun geht es um Schuld – und um Vergebung. Jetzt geht’s nicht mehr bloß um Geld. Nun geht es um Gefühle.
Ein Schuldschein, das ist bloß Papier. Das ist die Ebene, auf der Du Dich sicher fühlst, Simon. Aber zwischen Menschen zählen Gefühle – Vergebung ohne Gefühle, ohne dass Dein Herz das will, ist nichts wert. Bei allem Kalkül, bei allem Anstand – gegen diese Frau stehst Du armselig da. Ihr kann ich viel vergeben, sagt Jesus, sie hat mir viel Liebe erwiesen.
Aber im nächsten Satz, dem über Simon, macht Jesus, wenn man genau hinhört, dann doch einen gnädigen Schlenker. Er setzt nicht einfach eine Mechanik in Gang: „Von wenig kommt wenig.“ Er sagt nicht: „Du hast mir wenig Liebe gezeigt. Deshalb kann ich Dir nur wenig vergeben.“ Sondern umgekehrt: Jesus stellt einfach fest, so wie man es im Blick auf unsere Mitmenschen ja nicht selten auch erlebt, zu allen Zeiten: „Wem wenig vergeben wird, der kann auch nur wenig Liebe zeigen.“
Da praktiziert Jesus genau das, was er von Simon erwartet: Einfühlungsvermögen. Ja, so ist es ja oft: An wem ständig herumgemeckert wird, von klein auf, der wird sich auch später dann schwerer tun, mit anderen Menschen liebevoll, großzügig, mitmenschlich, einfühlsam umzugehen. Simon, merkst Du, was Dir fehlt?
Noch etwas Entscheidendes fehlt in dieser Geschichte, und das sogar in allen vier Versionen dieses denkwürdigen Treffens, so genau auch sonst die ganze Begegnung im Hause des Simon geschildert wird. Nämlich: Was hat diese Frau zuvor bloß erlebt, dass sie dann so aufgewühlt zu Jesus kommt und über alle Schranken von Anstand, Sitte und Moral hinweg ihm so demonstrativ die Füße salbte? Was war da eigentlich vorher passiert?
Simon der Pharisäer, Jean Beraud
„Simon der Pharisäer“
Jean Béraud (1849–1935)
Eine entscheidende Stelle, die offen bleibt in dieser Erzählung. Offen und einladend – wie eine Tür, in die wir selbst mit hineintreten könnten in diese Runde bei Simon. In diese Runde da passen wir hier ja ganz gut hinein. Wir wissen ja alle auch ganz gut, was sich so gehört. Kennen die ganzen feinen Unterschiede, auf die es sonst doch ziemlich ankommt. Aber stehen nun doch genauso vor der Frage: Was hat diese Frau eigentlich zuvor mit Jesus erlebt, was sie so hingerissen hat? Warum so viel Zuwendung? Was für ein Ausbruch an Zärtlichkeit – als ob er ihr das Leben gerettet hätte. Was hat Jesus mit ihr gemacht, dass sie sich so etwas traut? Dass sie gar keine Angst mehr hat, sich bloßzustellen. Sich zu blamieren mit all ihrer Liebe – zu so einem. Den man in den besseren Kreisen damals doch auch eher für so eine Randfigur hielt, die sich mit allen möglichen anderen Außenseitern einlässt – Huren, Säufern, Armen. Mit Zöllnern, Kranken, vor allem aber und immer wieder, so hört man: Mit Frauen.
Was war denn da bloß vorher, zwischen der Frau und Jesus?
Ich höre auf den Gang der Geschichte bis hierher und vermute: Jesus hat sie gar nicht so viel anders behandelt als Simon. Da hat Jesus keinen Unterschied gemacht. Er zeigt ihr gegenüber genauso viel Verständnis. Und Vergebung für alles, was das Leben aus ihr gemacht hat. Seine Liebe und Respekt hat sie gespürt, wie jeder andere in seiner Nähe. Nur dass dies der Frau wohl unendlich gefehlt hat. Unendlich gut getan hat. Sie wirklich im tiefsten Herzen angerührt und mitgerissen hat, plötzlich so angenommen und ernst genommen zu werden. Wer das erfährt, hat es leichter, selbst sein Herz zu öffnen. Sich nicht mehr schrecken zu lassen von den Vorurteilen der anderen. Keine Angst mehr zu haben vor der Häme der Besserwisser. Kann sich über alle vermeintlichen Unterschiede hinwegsetzen, trotz der Verachtung der Achtlosen.
Am Ende könnten beide gleich da stehen, nebeneinander: Alles, was zwischen Gott und der Sünderin steht, wird ausgeräumt. Auch dem Sünder wird vergeben, ohne Unterschied, genauso! Auch wenn einer bis dahin nur wenig Vergebung erfahren und deshalb wenig geliebt hat. Ja, wenn einer so ängstlich, so distanziert, so kalkuliert bleibt wie Simon, dann wird es vielleicht schon schwieriger. Wo viel Nähe gewagt, wo viel Liebe riskiert wird, wo auf die Stimme des eigenen Herzens gehört wird, da ist das leichter. Da ist die Frau dem Simon weit voraus. Sie hat den entscheidenden Schritt getan – durch die offene Tür ins Herz unseres Glaubens.
Und wir? Wir stehen ja eigentlich mit in dieser Runde, wahrscheinlich stehen wir sogar eher neben Simon, als dass wir neben der Frau knien.
Ich bin ja Seelsorger in einem Seniorenwohnstift, im Augustinum in Kleinmachnow. Immer wieder erlebe ich, dass dort die Frage auftaucht – und sie taucht nicht selten auf in Konflikten, als Kritik, wenn Menschen enttäuscht sind, und dennoch etwas erwarten: Was ist denn – oder: Wo bleibt denn eigentlich das Evangelische in diesem Haus? Das ist diese Frage ins Herz unseres Glaubens. Denn die so fragen, hoffen doch auf etwas, das gerade über jeden Standard, über den bloßen Anstand, über das übliche Maß an Rücksicht hinausgeht. Sie hoffen, mal verzweifelt, mal sehnsüchtig, mal empört – aber dennoch hoffen sie, dass bei einem christlichen Träger mehr zu erwarten wäre. Sie hoffen auf das offene Herz unseres Glaubens.
Ja, was ist eigentlich das Evangelische, auf das viele Menschen hoffen, die für den letzten Abschnitt in ihrem Leben in so eine Einrichtung ziehen? Damit liefern sie sich ja, eingestanden oder nicht, dieser ihrer Hoffnung auch ein Stück aus. Genau wie die Eltern, die für ihre Kinder auf das Evangelische setzen, etwa bei einem evangelischen Kindergarten, so wie ihn diese und viele andere Gemeinden haben. Oder auf das Besondere an einer evangelischen oder katholischen Schule. Oder als Patienten in einem kirchlichen Krankenhaus. Oder, persönlicher gefragt: Was ist eigentlich das spezifisch Christliche in einer Ehe, die unter kirchlichem Segen begonnen hat? Was wäre das Besondere, was in einer Familie zu spüren sein könnte, in der getaufte Christen miteinander leben? Wann immer wir uns an unsere Taufe erinnern, schwingt diese Frage ja mit.
Was machen wir aus der Kunst, nicht mehr zu unterscheiden. Nicht mehr so dosiert, so kalkuliert zu lieben. Wozu bewegt uns selbst diese große Hoffnung, dass da etwas Unverwechselbares zu unserem Glauben gehört, das mitwirkt, über unser Vermögen und unseren Verstand hinausgeht. Wie weit lassen wir uns tragen von dem, was der Begegnung zwischen Jesus und dieser Frau im Hause des Simon genauso vorangegangen sein muss. Das, was alle anderen Menschen in der Begegnung mit ihm verändert und bewegt, sie freier und liebevoller gemacht hat. Sie einander näher bringt und miteinander verbindet, dass alle Zweifel, alles Stirnrunzeln und alle Skepsis das nicht auseinanderbringen können?
Die Kunst, nicht mehr zu kalkulieren. Endlich weg vom ständigen Durchrechnen: Bekomme ich genug für das, was ich gebe – an Zeit, an Aufmerksamkeit, an Mitgefühl, an Geduld, an Unterstützung. Kann ich mir leisten, was ich von dieser Gesellschaft insgesamt doch auch erwarte? So viel Zeit für Kinder, für Alte, an Engagement für alle einzusetzen, die Hilfe brauchen, so dass alle aufatmen können? Wann wage ich eine Lebenshaltung, die Liebe riskiert, ohne sich in all den Unterschieden zwischen Menschen zu verheddern und zu fangen? Traue mir die Kunst der Verschwendung zu, ohne ständig auf Zeit, Geld, Moral, auf bereits gefällte Urteile zu schauen.
Nein, für Außenstehende mag es vielleicht so aussehen, als gebe es da keine Maßstäbe mehr, als ginge da einer völlig über alle Grenzen von Anstand und Moral, über alles, was unser Zusammenleben in der bürgerlichen Ordnung hält. Aber wer genauer hinhört, wird merken: Dahinter steht ein Glaube. Eine Nähe. Ein Vertrauen darauf, dass auch Gott kein Buchhalter ist. Dass er tatsächlich alles aus dem Weg räumen kann, was mich trennt von ihm. Dass dies ein Glaube ist, der hilft – über alle Grenzen und üblichen Maßstäbe hinweg. Dass auch wir deshalb dem vertrauen und folgen können, der uns verspricht: „Dein Glaube hat Dir geholfen, gehe hin in Frieden.“
Amen.
Pfarrer Klaus Möllering